Stell dir vor

Wenn die Liebe regiert...

Eine Gedankenreise in einen Alltag, in dem Stress mit Liebe aufgelöst wird statt mit Aggression.

Wenn die Liebe regiert
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Inga Israel

Wieder einer dieser Tage. Nach dem Weckerklingeln war Mariann versehentlich wieder eingeschlafen. Dann hatte sie den Kaffee verschüttet: Wasser drauf – trocken reiben – hilft alles nichts: also doch eine neue Bluse. Und nun kam Sina einfach nicht aus dem Bad. „Wir müssen zur Schule!“, rief Mariann genervt. Was trieb Sina denn so lange da drin? Doch da öffnete sie endlich die Badezimmertür, umarmte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss. Marianns Ärger: verpufft! Bestgelaunt verließen Mutter (summend) und Tochter (pfeifend) das Haus. Auf der Straße parkte ein Idiot rückwärts ein. Es stank. Sina legte ihre Stirn in Falten. Doch der Fahrer? Sah Sina und Mariann im Rückspiegel, stieg aus und reichte ihnen die Hand. Er ging vor Sina in die Knie und entschuldigte sich. Als Wiedergutmachung schenkte er ihr ein wunderschönes Ahornblatt. Glücklich zog Sina ihre Mutter zur Schule. Auf dem Schulhof stritten zwei Jungen aus ihrer Klasse. Offenbar ging es um ein kleines Segelflugzeugmodell. Mariann ahnte, dass es in wenigen Sekunden zerbrechen würde, bei diesem Streit. Doch als sie die beiden passierten, hielten die Jungen inne. Dann gaben sie sich die Hand und umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, gefolgt von einem High five, wiederum gefolgt von einer nie zu enden scheinenden Anzahl französischer Luftküsschen. Mariann staunte. Das hatte sie ja noch nie gesehen. Als sie sich von Sina verabschiedete, wurde ihr warm ums Herz, wie Sina da stand inmitten ihrer Mitschüler, die sich ihrer kleinen Schuhe und Jacken entledigten und sie an die Kindergarderobe hängten.

Wenig später eilte Mariann einer U-Bahn hinterher. Sie schaffte es eben noch rechtzeitig. Kaum war sie im Wagen, wurde sie angerempelt von einem Idioten, der noch später einstieg als sie. Mit voller Wuchte bekam sie seinen Ellbogen in den Bauch. Sie wollte eben losschimpfen, als der Mann sie ansah, lächelte. Die Schultern hob. Der Mann fragte, ob er ihr wehgetan hätte, und sagte voller Sanftmut: „Entschuldigung!“ Marianns Bauch tat gleich weniger weh. Im Büro saß schon Myriam. Warum waren immer die Kolleginnen und Kollegen am pünktlichsten, die dem Büroklima am wenigsten dienten? Und was knabberte die so früh schon wieder, was waberte denn da für ein Gestank durch den Raum? Allen Ernstes Leberwurst morgens um Viertel nach acht? Mariann rang sich einen genuschelten Morgengruß ab und hielt die Luft an. Dann spürte sie, wie sich ihre Mundwinkel hoben. Wie sich ihre Lungen mit Luft füllten. Sie sah die Kollegin auf einmal in ganz anderem Licht. Ein Mensch wie sie selbst. Mit Stärken und Schwächen. Nun denn. Warum sich über das bisschen Leberwurst aufregen? Mariann wünschte voller Kraft einen schönen guten Morgen und umarmte Myriam. Die Kollegin wunderte sich. Dann lächelte auch sie. In der Mittagspause im vietnamesischen Imbiss kramte Marianns Chef schon wieder nach Münzen. Wie geizig der immer war! Das konnte sie aufregen. Wie mickrig er Trinkgeld gab. Sie wollte sich schon beschämt umdrehen, als sie ihren Chef auf einmal umarmte und ihn kurzerhand zum Mittagessen einlud.

Abends, als Sina im Bett lag, sah Mariann aus dem Fenster. Auf der Straße umarmten sich die Passanten. Die Paare in den gegenüberliegenden beleuchteten Fenstern küssten sich. Auf den Dächern turtelten die Tauben. Dann begannen die Nachrichten. Aufmacher war ein Bild von den einst zerstrittenen Parteivorsitzenden, die sich anlächelten, umarmten. Obwohl sie verschiedene Meinungen hatten: Gemeinsam wollten sie die großen Probleme lösen und damit weit über die Landesgrenzen hinausstrahlen. Grenzen? Die brauchte es sowieso nicht mehr. Ab sofort regierte die Liebe.

Bei „Stell dir vor“ träumen wir von einem Alltag in einer Welt, die sich besser anfühlt.

Dieser Artikel stammt aus dem Demeter Journal