Ein Bauernhof mitten im Wohngebiet von Stuttgart? Zwischen zahllosen parkenden und fahrenden Autos, Mehrfamilienhäusern hinter schmalen Bürgersteigen – hier riecht es nicht nach Landwirtschaft, und es klingt auch nicht danach. Die üblichen Paketlieferwagen stehen vor dreistöckigen Gebäuden mit mehreren Klingelschildern, als Verkehrshindernisse werden sie ungeduldig umfahren von SUVs und Kleinwagen. Und dann doch: ein Schild mit einer Kuh, das in Richtung Bordstein ragt: „Reyerhof – Ihr Bauernhof in der Stadt“. Die Einfahrt neben dem Hofladen führt in der Tat nicht auf den nächsten Parkplatz, sondern – vorbei an zwei kleinen Tischen, die zum Hofcafé gehören – mitten hinein in einen luftigen, hellen, halbrunden Kuhstall. Und kaum ist man unter dessen Dach, befindet man sich in einer anderen Welt, die anders riecht (ein bisschen nach Kuhmist, ein bisschen nach Heu und Stroh) und sich anders anhört (hin und wieder ein Muhen, ansonsten dominiert das unglaublich beruhigende Geräusch, das entsteht, wenn zehn Kühe zufrieden wiederkäuen).
Anna Laura Hübner und Lukas Dreyer sind die nicht mehr ganz Neuen auf dem Reyerhof. 2015 kam Lukas mit seiner Familie hierher, Anna Laura stieß 2018 hinzu. Für beide war bei der Hofübernahme und gemeinsamen Betriebsführung am wichtigsten, „dass es menschlich passt mit uns“. Und das tut es. Als Dorothea Reyer-Simpfendörfer und ihr Mann Christoph eine Nachfolge für den Hof suchten, kam Lukas mit seiner Familie – „und die Chemie hat gestimmt!“ Seit dem Ende des Probejahrs von Anna Laura führt sie mit Lukas den Hof seit 2019 gemeinsam. Beide haben den Prozess der Hofübergabe als sehr wertschätzend empfunden. „Dafür sind wir dankbar, denn Hofübergaben sind nicht einfach. Uns hat hier die Demeter-Idee mit ihrem ganzheitlichen und nachhaltigen Ansatz eine gemeinsame Basis gegeben.“
Über die Gesamtorganisation und die Anbauplanung entscheiden die beiden gemeinsam. Die Hauptarbeit im Alltag dreht sich um den Gemüseanbau, daneben kümmert sich Anna Laura vor allem um den Kuhstall und die Milchverarbeitung, während sich Lukas mehr den Hühnern und dem Ackerbau widmet. Zusätzlich arbeiten noch sieben feste Angestellte, drei Azubis gemeinsam mit wechselnden Aushilfen, Waldorfschülerinnen und Praktikanten mit. „Und natürlich helfen uns auch viele unserer Solawi-Mitglieder“, fügt Anna Laura hinzu, „und davon gibt es immer mehr auf dem Reyerhof“. Seit 2013 hat sich der Betrieb als Solidarische Landwirtschaft (Solawi) aufgestellt, ein Prinzip, das Lukas folgendermaßen zusammenfasst: „Wir versorgen eine Gruppe von Menschen – Einzelpersonen, Paare, Familien und WGs – mit Lebensmitteln vom Hof, zurzeit sind das 560 Anteile und über 1000 Menschen, die da dahinterstehen. Gemeinsam besprechen wir das Budget, das wir brauchen, und jedes Mitglied gibt eine Kostenzusage. Im Gegenzug dafür bekommt es wöchentlich Kartoffeln, Gemüse, Salat, Apfelsaft, Getreide, Mehl und Brot. Was mich glücklich macht: Dadurch wird nahezu alles verteilt und gegessen, was geerntet wird, auch wenn das Gemüse mal nicht normgerecht aussieht und ein Salat mal die ein oder andere dunkle Stelle aufweist, die der Hagel hinterlassen hat. Das ist nicht nur gelebte Wertschätzung und Respekt gegenüber den Lebensmitteln, sondern auch ein großer Beitrag gegen Lebensmittelverschwendung.“
Respekt für das Tier heißt für uns zu fragen: Wie kann es seinem Wesen entsprechend leben? Was können wir tun, damit wir ihm ein solches Leben ermöglichen können?
Anna Laura Hübner
Neben der Sicherheit für den Hof und der großen Anerken- nung durch die Gemeinschaft schafft die Solawi eine Verbin-dung zwischen der Landwirtschaft und der Stadtgesellschaft. Bäuerin trifft auf Verbraucher, Stadtkinder auf Kühe und Hühner – bei den monatlichen Hofeinsätzen, pädagogischen Angeboten oder beim „After Work Farming“. Eine kleine Gruppe hilft regelmäßig jeden Mittwoch beim Ernten, Packen und Verteilen, und in Notsituationen kommen noch viel mehr zur Hilfe. „Die Mitglieder engagieren sich mit Herzblut – ob ganz praktisch auf dem Acker oder auch bei der Organisation und Öffentlichkeitsarbeit. All dies sind großartige Möglichkeiten für Kontakt, für Transparenz und um Vertrauen aufzubauen“, schwärmt Anna Laura. So herrscht ein großes Gemeinschaftsgefühl in der Community um den Reyerhof, das zu spüren ist, wenn man in diese Welt eintaucht: „Wir hatten zuletzt eine sehr bewegende Vollversammlung, die Corona-bedingt online stattgefunden hat. Zu sehen, für wen man die Lebensmittel produziert, und diese Bestärkung zu erfahren, ist für uns etwas sehr Wertvolles und gibt uns Energie für unsere Arbeit.“
Weil sie so nah dran sind an der Produktion ihrer Lebensmittel, identifizieren die Menschen hier sich mit den Idealen des Reyerhofs, erklärt Lukas: „Unsere Mitglieder wollen, dass wir ausschließlich samenfeste Sorten anbauen. Das ermöglicht uns, Gemüsesorten anzubauen, bei denen die Integrität der Pflanze, der Schöpfung, gewahrt wird. Die Gemeinschaft ermöglicht es uns also, unseren Idealen einer guten Landwirtschaft nahezukommen, und zeigt uns: Das Risiko einer geringeren Ernte tragen wir mit – dann ist die Ernte, die man sich teilt, eben etwas kleiner.“ Diese Wertschätzung durch die Solawi macht zufrieden – und zwar beide Seiten. Anna Laura freut sich, dass viele Mitglieder, die lange dabei sind, inzwischen ein größeres Wissen über Landwirtschaft haben, aber auch über das Interesse der neuen: „Andere lernen hier erst: Was machen Bauern überhaupt? Wie arbeiten sie mit dem Wetter? Sie setzen sich in Themenabenden durchaus mit Fachfragen auseinander, etwa warum wir Wiederkäuer für eine nachhaltige Landwirtschaft brauchen.“
Die Wertschätzung, die wir von unserer Solawi bekommen, ist etwas Besonderes. Zu spüren: All diese Menschen stehen hinter uns, tragen uns – das bestärkt uns in unserer Arbeit.
Lukas Dreyer
So gut die innerstädtische Lage auch für die Bindung an die Gesellschaft und die Vermarktung der Produkte ist, so führt sie auch dazu, dass der Raum für die Landwirtschaft beengt bleibt. „Das macht es uns im Moment leider unmöglich, unsere zehn Milchkühe auf die Weide zu bringen, weil die Weideflächen zu weit vom Hof entfernt sind“, bedauert Anna Laura. Unvorstellbar, eine Herde durch die Straßen zwischen den Autos hindurchzutreiben; Autobahn, Straßenbahntrasse und Bundesstraße befinden sich in nächster Nähe. Ein Transporter für die Tiere wiederum passt nicht in die schmale Hofeinfahrt. Aus diesen Gründen hat der Reyerhof eine Ausnahmegenehmigung vom Demeter-Verband bekommen – und muss den Milchkühen statt des Weidegangs täglichen Auslauf gewähren und im Sommer frisches Gras füttern. Doch zufriedengeben wollen sich Anna Laura und Lukas mit dieser Situation nicht. Sie arbeiten daran, in Zukunft einen Stall auf einer weiteren Weide bauen zu können. „Unsere Mitglieder verstehen, warum die Milchkühe nicht auf der Weide sind, solange sie täglich gemolken werden. Sie sehen jedoch, dass wir uns in anderen Bereichen sehr engagieren. So ziehen wir alle Kälber auf, und zwar kuhgebunden, das heißt mit der Mutter oder einer Amme. Unsere Bullenkälber dürfen hier aufwachsen und werden erst mit zwei Jahren geschlachtet. Sie und alle Tiere, die nicht gemolken werden, sind natürlich auf der Weide“, erklärt Anna Laura. Dabei ist der Kuhstall jederzeit offen für alle, die sich dafür interessieren. Sie ist überzeugt, dass die Tiere diese Aufmerksamkeit genießen, die ihnen täglich durch die Besucher zuteilwird. Ebenso steigt dadurch auch die Wertschätzung für die Produkte aus ihrer Milch, die direkt auf dem Hof auch zu Käse, Joghurt, Quark und im Sommer zum stadtbekannten „Reyerhof-Eis“ verarbeitet wird. Anna Lauras Anspruch ist, jedes Tier möglichst lange zu behalten. Als selbstverständlich empfindet sie es, die ihr anvertrauten Tiere auch beim letzten Gang am Ende ihres Lebens zu begleiten, wenn sie sie in eine kleine, ausgewählte Landmetzgerei bringt: „Hier arbeitet ein achtsamer und ruhiger Metzger, das ist uns wichtig, um dem Tier Stress zu ersparen.“
Auch in der Hühnerhaltung steht das Wesen der Tiere im Zentrum. „Wir haben uns bewusst für Mobilställe entschieden, weil diese artgerechter sind. Wir halten trotz ihrer geringeren Legeleistung die Zweinutzungsrasse „Coffee & Cream“ der Ökotierzucht ÖTZ, weil wir das System ablehnen, in dem Masthähnchen und Legehennen auf Hochleistung gezüchtet sind – und gesundheitlich darunter leiden. Auch legen bei uns die Hühner eineinhalb Jahre Eier, also um die Hälfte länger als auf anderen Höfen“, erklärt Lukas.
Der Reyerhof liegt im Herzen von Stuttgart-Möhringen. Dort bewirtschaften Lukas Dreyer und Anna Laura Hübner mit ihren Mitarbeiter:innen rund 40 Hektar; neben Gemüse und Getreide werden auch Fleisch, Milch und andere Milcherzeugnisse produziert. Seit 2013 beliefert der Demeterhof – als Genossenschaft organisiert – eine wachsende Gruppe von Menschen nach dem Prinzip der Solidarischen Landwirtschaft. Zusätzlich gibt es einen Hofladen und als „Lernort Bauernhof“ pädagogische Angebote. 2021 wurde der Reyerhof mit dem ersten Förderpreis „Bestes Bio-Betriebskonzept Baden-Württembergs“ ausgezeichnet.
Die Tiere als „Seele des Betriebs“ sind auf dem Reyerhof das Verbindungsglied zu all den Menschen, die hierherkommen. Vor allem die Kühe haben dabei eine Sonderrolle und sind das Herzstück des Betriebs, wie Anna Laura erklärt: „Die Kühe verbinden alles miteinander – vom Grünland bis zum Acker: Sie fressen das Gras, käuen es wieder, verdauen es, und ihr wertvoller Dung sorgt auf dem Acker für gute Bodenfruchtbarkeit und gutes Gemüse und Getreide. Damit haben sie und ihr Mist auch abseits der Milchproduktion einen unschätzbaren Wert für die nachhaltige Landwirtschaft.“ „Die Rinder füttern also den Boden und er wiederum lässt das Futter wachsen, das sie fressen. Wir denken hier in einem Organismus“, ergänzt Lukas. Und nur als solcher kann der Reyerhof in Zukunft wachsen: „Der Anbau von Gemüse muss in gutem Verhältnis stehen zu unserer Tierhaltung – und diese wiederum zu dem Anbau von Futter. Zurzeit haben wir keinen Platz für mehr Tiere, also können wir gerade auch nicht mehr Gemüse anbauen, obwohl das von der Solawi gewünscht ist und viele potenzielle Mitglieder auf Wartelisten stehen.“ Dass die Gemeinschaft um den Reyerhof, die heute bereits zu den größten dieser Art in Deutschland gehört, weiterwachsen soll, darin sind sich beide einig: „Aber langsam – und in Einklang mit allem, was dazugehört, zum Beispiel, dass wir es hinbekommen, dass unsere Milchkühe auf die Weide können.“
Anerkennung und Respekt erhält der Reyerhof auch durch andere Demeter-Bäuerinnen und -Bauern. Seit drei Jahren nimmt er am Pilotprojekt „Anerkennung“ teil. Dieses untersucht, ob für die Demeter-spezifischen Kriterien zusätzlich zur Biokontrolle eine intensive individuelle und entwicklungsbezogene Anerkennung durch Kolleg:innen statt durch die übliche Checklisten-basierte Kontrolle funktionieren würde. „Die Betriebsentwicklungsgespräche sind uns dabei nicht nur Anerkennung unserer Arbeit, sondern auch Ansporn, unsere Ziele zu erreichen“, erklärt Lukas, „denn im Folgejahr müssen wir uns rechtfertigen, wenn wir etwas nicht geschafft haben.“ Anna Laura schätzt vor allem den fachlichen und persönlichen Austausch und das gegenseitige Lernen voneinander: „Der Fokus auf der individuellen Entwicklung wird uns in unserer Arbeit besser gerecht, denn in ganz vielen Bereichen gehen wir weit über die Demeter-Richtlinien hinaus. Dass sich Kollegen so intensiv damit beschäftigen, wie wir arbeiten und was unser ganz eigener Anspruch an unsere Arbeit ist, ist für mich eine andere Ebene der Wertschätzung.“
2018 hat der Demeter e. V. das Pilotprojekt „Anerkennung“ gestartet. Bis 2022 werden dabei neue Wege zur Demeter-Zertifizierung für Höfe erprobt. Neben der jährlichen EU-Kontrolle beinhaltet die zeitintensive „Anerkennung“ auch jährliche moderierte Betriebsentwicklungsgespräche auf den Höfen, Hofrundgänge mit Kolleg:innen und Verbraucher:innen sowie detaillierte Selbstauskünfte. Ob und in welcher Form diese Form der Anerkennung bei der zukünftigen Demeter-Kontrolle eine Rolle spielen wird, entscheiden – je nach den Ergebnissen des abgeschlossenen Projekts – die Delegierten des Demeter e. V. Das Pilotprojekt wird durch die Software AG Stiftung sowie durch die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung/Bundesprogramm Ökologischer Landbau unterstützt.
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