Kaum ein Thema ist emotional so besetzt wie die Aufzucht der Kälber. Viele Konsument:innen erwarten, dass der Nachwuchs ganz selbstverständlich bei der Mutterkuh groß wird. Mehr und mehr Demeter-Höfe stellen um auf diese muttergebundene Kälberaufzucht – aber längst noch nicht alle. Auch die Richtlinien schreiben die Art der Aufzucht nicht vor. Welchen Standpunkt nehmen Demeter-Bäuer:innen zu diesem Thema ein?
Seit dem 1. Oktober 2019 gibt es in Süddeutschland ein eigenes Siegel für die kuhgebundene Kälberaufzucht. Das Gemeinschaftsprojekt der Demeter HeuMilch Bauern und des Nutztierschutzverein PROVIEH ist bisher einzigartig in Deutschland und kann die Zukunft der Kälberaufzucht nachhaltig zum Positiven verändern.
Mehr zum Siegel "Zeit zu zweit"
Mechthild Knösel war von 2006 bis 2023 Bäuerin auf dem Demeter-Hof Rengolshausen am Bodensee. Die Landwirtin kümmert sich besonders um die 40köpfige Rinderherde. Für sie war schon viele Jahre klar, dass die Aufzucht der Kälber an den Müttern die beste Option darstellt.
Ihre Abschlussarbeit in der landwirtschaftlichen Ausbildung widmete sich bereits dem Vergleich dreier Aufzuchtsysteme: Eimertränke, Ammenhaltung und muttergebundene Kälberaufzucht. „Ich sehe, dass die Kühe schenken und schenken und schenken. Sie liefern uns Milch und Kälber, und tun das auch gerne, glaube ich. Klar geben wir Fürsorge und Futter zurück, aber mir war wichtig, auch die Kuh-Kalb-Beziehung zurückzuschenken. Mein Grundverständnis des Wesens Kuh ist, dass die Kuh lebt, um ihr Kalb aufzuziehen. Um ihr von diesem Urwillen, das zu tun, wenigstens ein Teil zurückzugeben, haben wir damals von Eimertränke auf muttergebundene Kälberaufzucht umgestellt“, berichtet die Mutter von drei Kindern.
Sie lief dabei offene Türen ein, denn mit der Eimeraufzucht gingen in „Rengo“ gesundheitliche Probleme einher: Durchfall, Nabelentzündungen, Atemwegserkrankungen. „Eigentlich wissen wir ja alle: Das Kalb wächst besser am Euter auf – am besten an dem der Mutter.“ Denn die Meisterarbeit von Mechthild Knösel zeigte, dass selbst die Aufzucht mit einer Kuh-Amme nur die zweitbeste Lösung ist. Besser als Eimertränke, weniger gut als mütterliche Milch und Zuneigung.
Zu stabiler Gesundheit und optimalem Wachstum kommen auch soziale Aspekte. „Kälber, die über drei bis vier Monate kontinuierlich Kontakt zu ihren Müttern haben dürfen, stehen anders in der Welt“, hat Mechthild Knösel beobachtet. Sie zeigen deutlich weniger Verhaltensstörungen, die es bei Eimer-Aufzucht durchaus gebe, wie das gegenseitige Besaugen oder Stoßen. Kalbinnen – also erstgebärende Kühe – die muttergebunden aufwachsen, integrieren sich stressfreier in die Herde. Zur innerlich gereiften Entscheidung kam in Rengolshausen die entschlossene Umsetzung. „Es lässt sich auf den meisten Betrieben ohne große bauliche Veränderungen einführen“, vermittelt Mechthild Knösel längst auch anderen biodynamischen Bäuerinnen und Bauern ihre Erfahrung. Bevor sie 2006 umstellte, waren auf ihrem Betrieb Mutterkuh und Kälbchen fünf Tage zusammen in einer großen Box. So bekam das Kalb die wichtige Biestmilch. Dann wurde rasch von Euter auf Eimer umgestellt und die Wand zwischen Kälber- und Kuhstall immer höher gebaut, um das klägliche Schreien von Kühen und Kälbern durch die Sichtsperre zu beeinflussen. Trotz homöopathischer Unterstützung war die Trennung hörbar schmerzhaft für alle Beteiligten. Heute bleiben Mutter und Kalb drei Wochen in der Abkalbebox zusammen. Danach fällt der Übergang in den „Kindergarten“ nicht so schwer. Vor allem, weil Kuh und Kalb sehr schnell begreifen, dass es morgens und abends immer eine Stunde für die Begegnung gibt. Dafür reichte es zunächst, den Bereich beim Melkstand zu nutzen. „So ein Begegnungsplatz für Mütter und Kälber lässt sich leicht einrichten und wenn sie den Platz kennen, an dem sie zuverlässig ihre Mütter treffen, laufen sie immer ganz selbstverständlich hin“, schildert die Landwirtin ihr System. Viele Jahre lang war der Treffpunkt für Mutter und Kind immer nach dem Melken. Inzwischen ist es auf Rengolshausen möglich geworden, einen eigenen Bereich zwischen Kuh- und Kälberstall für die Begegnungen einzurichten. „So konnte ich noch mal neu ausprobieren, ob nicht die Mutter-Kind-Treffen vor dem Melken noch sinnvoller sind“, berichtet Mechthild Knösel. „Bis zum letzten Winter hat bei uns die Mutter-Kuh beim Melken entschieden, wie viel Milch sie hergeben will. Oft blieb dann mehr im Euter als das eigene Kalb brauchte und es war wichtig dafür zu sorgen, dass alle Euter nach der Begegnung mit den Kälbchen auch wirklich leer getrunken waren, damit keine Euterentzündungen entstehen.“ Jetzt trinkt jedes Kalb an seiner Mama, bis es satt ist, hat Zeit zum Schmusen, Belecken und Spielen, bevor die Kuh dann zum Melken geht und die restliche Milch bereitwillig fließen lässt. „Das passt viel unkomplizierter in unsere Abläufe und von der Milchleistung her sehen wir keine deutlichen Differenzen“, betont die Kuh-Expertin aus Baden Württemberg.
Im ersten System endete der Kontakt Mutterkühe – Kälber im Schnitt nach zwei Monaten. Dann konnten die größeren Kälber noch bei den anderen Kühen trinken, die zu viel Milch für ihren Nachwuchs hatten. Jetzt ist die gemeinsame Zeit auf drei Monate ausgedehnt. Im vierten Monat hat das Kalb noch Milch von anderen Mamas. „Das ist ein schonender Übergang, weil Mutterabsetzen und Milchabsetzen entzerrt sind“, verrät Mechthild Knösel den Vorteil. Auch die Entwöhnung von der Milch steuert sie schonend. Die älteren Kälber kommen dann eine Woche lang eine halbe Stunde später zum Tränken-Event, in der zweiten Woche dann nur noch einmal am Tag und verlieren dabei sichtbar bereits das Interesse am Euter. „Den Mutterverlust nach drei Monaten verschmerzen die Kälber recht gut. Es hilft ihnen, dass sie dann noch woanders mit-trinken können.“ Auch die Mutterkühe werden Zug um Zug auf die Trennung eingestellt. Sie gehen über fünf Tage nicht mehr morgens und abends zu ihrem Kalb, sondern nur noch einmal. Das verstehen sie schnell. Mechthild Knösel hat nicht den Anspruch, dass die Trennung völlig schmerzlos für Mutter und Kind abläuft. „Aber es ist bei uns längst nicht mehr so dramatisch wie vorher, auch wenn die Tiere durchaus noch etwas darunter leiden.“ Zudem bereitet die sensible Frau ihre Tiere durch innere Kommunikation auf das Bevorstehende vor und ist sich sicher, dass diese klaren Botschaften bei der Kuh und beim Kalb ankommen. „Ich verlange nicht, dass Tiere nie leiden, aber ich kann zu unserem System stehen und sagen: Jetzt ist es gut.“ Dazu trägt sicherlich bei, dass sowohl die Kühe als nun auch die Kälber in Rengoldshausen bei bester Gesundheit sind und die Herde ein harmonisches Bild zeigt. Bei aller Überzeugung plädiert Mechthild Knösel dennoch nicht dafür, alle Demeter-Höfe per Richtlinien-Verordnung zur Umstellung auf muttergebundene Kälberaufzucht zu zwingen. „Das muss von innen kommen. Vor dem Zwang durch Richtlinien warne ich ausdrücklich“, sagt sie. „Es geht nur, wenn man es einsieht und will – und dann geht es mit Sicherheit“.
Hier finden Sie eine Liste von Höfen, die in Deutschland muttergebundene Kälberaufzucht betreiben. Darunter befinden sich auch viele Demeter-Betriebe.